Kapitel 3

Gruppendynamik in Schulklassen

Wir hatten immer wieder davon gehört. Wenn wir erwähnten, dass wir uns entschlossen hatten, unsere Kinder zu Hause zu unterrichten, dann bekommt ihr Gegenüber fast einen Schock. Sofort kommt wie aus der Pistole geschossen: „Wie soll mein Kind dann lernen, mit anderen Leuten umzugehen?“ „Wie werden sie im wirklichen Leben zurechtkommen?“ „Auf welche Weise werden sie genügend Kontakt mit Kindern ihres Alters bekommen?“

Natürlich steckt die Annahme dahinter, dass es für Kinder etwas ganz Besonderes ist, wenn sie in einer Gruppe von Gleichaltrigen sein können. Die Tatsachen zeigen das Gegenteil. Eine Gruppe von Gleichaltrigen („peer group“) ist so ziemlich die schlechteste Anordnung für eine gesunde soziale Entwicklung. Marilyn und ich haben uns jahrelang die Zähne ausgebissen, weil Heimschuleltern nicht viel leichter davon zu überzeugen sind, als Schullehrer und skeptische Großeltern. Mütter und Väter nehmen ihre Kinder weiterhin von der Schule, meist deshalb, weil eine „engelhafte“ Menge ihre Kinder sozial verbogen hat. Danach machen sie eine Kehrtwendung und verstricken sie in viele Aktivitäten, wo sich alles um Gruppen von Gleichaltrigen dreht.

Hoffentlich gelingt es mir, in diesem Kapitel aufzuzeigen, dass eine Gruppe von Gleichaltrigen schädlich ist und dass es das letzte ist, was Eltern sich für ihre Kinder wünschen sollten. Ich werde also einige der Sozialisationsprobleme durch Gruppen von Gleichaltrigen auflisten und dann jedes Problem erweitern und dokumentieren. Dies wird sie hoffentlich darin bestätigen, dass ihr Handeln als Heimschuleltern richtig ist, wenn sie ihr Kind auch vor Gleichaltrigen außerhalb der Schule schützen. Hoffentlich gibt ihnen das auch etwas Munition in Diskussionen mit Kritikern an die Hand, die offen genug sind, um Ihnen ehrlich zu zuhören.

 

1. Sozialisation in Gruppen von Gleichaltrigen neigen dazu, Kinder von den anderen abhängig zu machen.

Ein Buch, das ich in einer Hochschulbücherei fand, schien zunächst ein soziologisches Werk auf Universitätsniveau zu sein. Herausgekommen 1986 ist es noch ziemlich auf der Höhe der Zeit und mehr als aufschlussreich, was die humanistische Sicht bezüglich Gruppen von Gleichaltrigen betrifft:

Die Gruppe der Gleichaltrigen hilft den Kindern, Einstellungen und Werte zu formen. Es ist ein Filter zur Sichtung der von den Eltern herkommenden Werte und zur Entscheidung, welche davon man behalten und welche verwerfen sollte.1

Haben sie das verstanden? Diese Autoren behaupten, es wäre eine erstrebenswerte Tatsache, dass Kinder auf ihre Gruppe von Gleichaltrigen hören, ob sie die Werte, die ihre Eltern ihnen von zu Hause mitgeben, annehmen oder ablehnen sollen!

Ganz recht fahren die Autoren fort:

Gruppen von Gleichaltrigen stülpen oft ihre Werte Heranwachsenden über. Kinder spielen in Gruppen miteinander … Leider passiert es nur allzu oft in solcher Gesellschaft, dass Kinder stehlen, mit dem Rauchen und Trinken anfangen, sich in Kinos hineinschmuggeln und andere nicht wünschenswerte Dinge tun. (S. 424)

Weiterhin sagen die Autoren ganz richtig aus:

Jeder möchte beliebt sein. Was Gleichaltrige von uns denken, hat einen enormen Einfluss auf uns. Die Anerkennung von anderen beeinflusst nicht nur unser jetziges Glück, sondern kann sich durchaus über die Jahre auf unsere Gesundheit auswirken. (S. 425)

Umso mehr sollten wir unseren Kindern keinen willkürlichen Kontakt mit irgendjemandem zulassen, weil das nur zur zufälligen Beeinflussung ihres Selbstbewusstseins durch Komplimente oder Beleidigungen führt.

 

2. Sozialisation durch Gleichaltrige setzt Kinder konstanten Attacken auf ihr Selbstwertgefühl aus.

Dieselben Autoren behaupten etwas, was allen Eltern Stoff zum Nachdenken geben sollte:

Die Gruppe von Gleichaltrigen gibt den Kindern einen realistischeren Maßstab für die Entwicklung von Fähigkeiten und Fertigkeiten an die Hand, als es kleine Geschwister oder die Eltern tun könnten, die doch so viel größer, weiser und stärker sind. Nur in einer großen Gruppe Gleichaltriger können Kinder ein Gefühl dafür bekommen, wie schlau, athletisch, geschickt und sympathisch sie sind. (S. 423)

Mit anderen Worten geben die Gruppen von Gleichaltrigen unseren Kindern Gelegenheit, eigene Meinungen zu entwickeln, indem sie sich mit den anderen vergleichen. Wie diese ständigen Vergleiche und Wettkämpfe helfen sollen, bleibt ein Rätsel. Ganz sicher steht das im Gegensatz zur Zusicherung der Bibel (s. Psalm 139), dass jeder von uns ein einzigartiges, von einem liebenden Gott sorgfältig und auf eine besondere Art geschaffenes Individuum ist.

Denn wir wagen es nicht, uns denen zuzurechnen oder gleichzustellen, die sich selbst empfehlen; sie aber sind unverständig, indem sie sich an sich selbst messen und sich mit sich selbst vergleichen. »Wer sich aber rühmen will, der rühme sich des Herrn!« Denn nicht der ist bewährt, der sich selbst empfiehlt, sondern der, den der Herr empfiehlt. (2. Korinther 10,12;17;18)

Bildungsreformer John Holt schreibt:

Wenn ich Leuten aufzeige, dass der soziale Schul- oder Klassenraumgeist kleinkariert, bösartig, statusorientiert, von Konkurrenzdenken geprägt und snobistisch ist, muss ich mich immer wieder über ihre Antwort wundern. Keine von den Hunderten, mit denen ich das diskutiert habe, hat bis jetzt behauptet, dass soziales Miteinander in der Schule nett, großzügig, hilfsbereit, demokratisch, freundlich, liebevoll oder gut für Kinder wäre. Wenn ich den Umgangston in der Schule geißele, sagen die Leute ohne Ausnahme: `Aber das erwartet die Kinder in der Realität.´2

Diese Leute sind auf dem Holzweg. Der soziale Druck in Gruppen von Gleichaltrigen ist viel größer, als das, was die meisten Erwachsenen erleben. Nur unter Kindern wird es akzeptiert, wenn jemand ständig laut beleidigt und verspottet wird. Unter Erwachsenen würde das sehr schnell zu eventuell gewalttätigen Auseinandersetzungen führen und Beziehungen würden zerbrechen. Erwachsene unterscheiden sich natürlich von Heranwachsenden, weil sie wählen können, mit wem sie zusammen sein wollen. Schulkinder sitzen da in einer Falle.

Ein Leser von Holts Buch „Growing Without Schooling“3 schrieb:

Diesen Morgen fragte ich unsere Drittklässler: `Denk ihr, dass die Kinder in unserer Schule nett und freundlich zueinander sind?´ Von 22 Kindern meinten lediglich zwei, dass es Freundlichkeit geben würde. Der Rest erlebte die meisten Kinder als gemein, verräterisch, verletzend usw. Ich war wirklich verblüfft. Ich hatte immer gedacht, dass unsere Schule ein einmalig freundlicher Ort ist …. (S. 49)

John Taylor Gatto, 1991 zum Lehrer des Jahres in New York gewählt, hat aus 26 Jahren Erfahrung als Lehrer folgendes über den Umgang von Kindern miteinander zu sagen:

Die Kinder, die ich unterrichte, sind grausam zueinander. Ihnen fehlt das Mitgefühl für Unglück eines anderen. Sie lachen über Schwächen und verachten Leute, deren Hilfsbedürftigkeit nur zu offensichtlich ist.4

Während einer Pause bei einem unserer „Lernende Eltern“-Seminar in North-Carolina kam ein Mann zu mir und erzählte mir die Geschichte eines ihm bekannten 14-jährigen Jungen, der seine Mutter angefleht hatte, dass sie ihn wegen des sozialen Drucks auf seiner Schule zu Hause unterrichten solle. Dieser Junge wurde von den anderen wegen verschiedener Gründe abgelehnt und litt fürchterlich unter der Ausgrenzung. Er ließ nicht locker, aber seine Mutter hatte eine Karriere im Sinn, die ihr viel bedeutete. Außerdem schätzte sie das Problem als nicht so schlimm ein wie ihr Sohn es beschreiben hatte. Das ging eine ganze Zeit so weiter und endete dann tragisch mit dem Selbstmord des Jungen. Die meisten Kinder reagieren nicht genauso verzweifelt auf sozialen Druck in Gruppen von Gleichaltrigen. Trotzdem zeigt die Geschichte dieses jungen Mannes den verheerenden, in konzentrierten Dosen abgegebenen Druck in solchen Gruppen.

 

3. Sozialisation in Gruppen von Gleichaltrigen bringt eine negative Haltung gegenüber anderen Altersgruppen hervor.

Als ich noch als Halbwüchsiger zur Schule ging, glaubten wir, dass unsere Gruppe das höchste der Gefühle war. Jüngere Kindern, insbesondere unsere eigenen kleineren Geschwister, waren Plagen und Parasiten, deren Interessen albern und deren Fähigkeiten so unterentwickelt waren, dass sie uns niemals einholen könnten. Erwachsene standen hoffnungslos außerhalb der Realität. Von Eltern konnten wir in ihrer steinzeitlichen Dummheit nicht erwarten, dass sie irgendetwas vom Leben verstanden. Und die Lehrer traten ihren Beruf in der Schule nur an, weil sie Spaß am Kinderquälen hatten. Andere Kinder empfanden wir manchmal als gute Kumpel oder sogar bewundernswert, aber oft genug auch als arrogant und bedrohlich. Das galt insbesondere für ältere Brüder, wenn sie mit ihren Freunden loszogen.

Ich erinnere mich noch, wie ich mit meinem Freund Jeff, der ebenfalls ein Neuling war, durch die Halle unserer Schule spazierte. Als wir einer Gruppe von älteren Jungen begegneten, die uns entgegen kamen, schnellte eine Faust aus der Gruppe und gab Jeff einen harten Schlag auf die Schulter. Die Faust gehörte zu Jeffs älterem Bruder. Ganz offensichtlich hatte er die Gelegenheit ergriffen, seine Stellung in der Gruppe aufzuwerten, indem er seinen Sinn für Humor demonstrierte. Jeff schien den Spaß aber nicht zu verstehen. Ich kann mich noch genau an seinen verletzten Gesichtsausdruck erinnern.

Es ist wichtig festzuhalten, dass diese Verachtung für jüngere Kinder unnatürlich ist, wie andere Staaten uns zeigen. In der früheren Sowjetunion z.B. „adoptierten“ Schulklassen jüngere Klassen, um sie zum staatsbürgerlichen Verhalten anzuleiten. Diese und andere Versuche zum Mischen der verschiedenen Altersgruppen zeitigten Gemeinschaftsphänomene, welche die meisten amerikanischen Besucher in Erstaunen versetzen würden. Der Psychologe Urie Bronfenbrenner berichtete über ein Erlebnis, das er bei einem Russlandbesuch machte:

Ich erinnere mich an ein Erlebnis auf einer Moskauer Straße. Unser jüngster Sohn, damals war er vier, lief uns flott ein oder zwei Schritte voraus, als aus der entgegengesetzten Richtung eine Gruppe von Jugendlichen auf uns zukam. Als der erste von ihnen Stevie sah, breitete er seine Arme sogleich weit aus und rief: `Ai, malysh!´ (Heh, Kleiner!). Dann hob er ihn hoch, umarmte ihn, küsste ihn schmatzend und reichte ihn an die anderen weiter, die dasselbe mit Stevie taten. Danach begannen sie einen lustigen Kindertanz, wobei sie ihn mit Worten und Gesten liebkosten. Würde man ein ähnliches Verhalten bei einem amerikanischen Jungen sehen, würden seine Eltern Veranlassung zum Einschalten eines Psychiaters sehen.5

Es ist normal, natürlich und schriftgemäß für Menschen, Zärtlichkeit den Jüngeren und Respekt den Älteren gegenüber an den Tag zu legen. Diese Charaktereigenschaften gehören in den meisten Kulturen, die ihre Kinder nicht in Schulen nach Altersgruppen trennen, zum normalen Verhalten. Dank unserer Praxis der Alterstrennung haben wir das Problem der Altersentfremdung.

Die Schule teilt die Kinder systembedingt bereits im ersten Jahr in Schichten ein. Das verstärkt sich mit jedem weiteren Jahr. Wenn die Kinder in der Sekundarstufe I („junior high school“) angekommen sind, wissen sie beim besten Willen nicht, wie sie mit jemandem umgehen sollen, der nicht zu ihrer Altersgruppe gehört. Allein schon der Gedanke an Umgang mit irgendjemandem außerhalb ihres Alters versetzt sie in Angst und Schrecken. Sie können nicht einmal einfache Gespräche mit Erwachsenen oder jüngeren Kindern führen. Wenn sie dann schließlich ihren weiterführenden Abschluss gemacht haben und in die Gesellschaft entlassen werden, müssen sie einige Jahre lang ihre Haltung korrigieren, bis sie hineinpassen. Einige schaffen es nie.6

 

4. Sozialisation in Gruppen Gleichaltriger spaltet Familienbeziehungen

Es ist bereits abträglich für Kinder, von anderen Altersgruppen isoliert aufzuwachsen. Dieses Syndrom erreicht jedoch seinen schädlichsten Effekt in der emotionalen Trennung der Kinder von ihren Geschwistern in der Familie. Durch zeitliche Verpflichtungen, Interessen und emotionale Bindungen trennt die Abhängigkeit von der Gruppe der Gleichaltrigen Kinder sowohl von ihren kleineren Geschwistern, als auch von ihren Eltern.

Dr. Urie Bronfenbrenner und seine Kollegen von der Cornell Universität haben zu diesem Thema eine Studie angefertigt. Bronfenbrenner schreibt über deren Ergebnisse:

Im Allgemeinen haben auf Gleichaltrige ausgerichtete Kinder eine sehr schlechte Meinung von sich selbst und den anderen in der Gruppe. Sie drücken auch eine pessimistische Sicht ihrer eigenen Zukunft aus. Ihre Eltern schätzen sie geringer ein, sowohl was Zuneigung und Hilfe, als auch was Disziplin und Kontrolle anbelangt, als die Gruppe der Gleichaltrigen. Und schließlich berichten an Gleichaltrigen orientierte Kinder, im Gegensatz zu Kindern, die sich an Erwachsenen orientieren, über häufigere Verwicklungen in unsoziales Verhalten wie „etwas Illegales tun“, „die Schule schwänzen“, lügen, andere Kinder aufziehen usw.7

Wenn man die Abhängigkeit der Kinder von den Gleichaltrigen überblickt, so fährt Bronfenbrenner fort, dann deutet die Studie als Ursache elterliche Gleichgültigkeit an. Das beweist, dass die Übertragung der Abhängigkeit von den Eltern zur Gruppe Gleichaltriger beidseitig bedingt ist. Das heißt, wenn die Abhängigkeit von der Gruppe der Gleichaltrigen den Eltern auch etwas von der Anhänglichkeit ihrer Kinder raubt, so stimmt es auf der anderen Seite auch, dass eine Fehlen elterlicher Fürsorge und Anteilnahme bei einem Kind zum Anwachsen der Abhängigkeit von der Gruppe der Gleichaltrigen führen kann.

Auch wenn viel Aufmerksamkeit auf das Problem des Drucks in Gruppen von Gleichaltrigen gerichtet worden ist, so beunruhigt es Amerikaner heute mehr, wenn ihre Kinder an ihnen hängen. Das wäre für Juden in biblischen Zeiten völlig fremd gewesen. Im Alten Testament werden junge Männer ermahnt, auf den Rat ihrer Eltern zu hören, selbst wenn sie schon erwachsen und ihre Eltern alt sind. Sprüche 23,22 ist bezeichnend: „Höre auf deinen Vater, der dich gezeugt hat, und verachte deine Mutter nicht, wenn sie alt geworden ist!“

In dieser Kultur war es völlig normal, dass Eltern sich um ihre Kinder kümmern, solange diese noch jung sind, und dass Kinder für ihre Eltern sorgen, wenn diese alt geworden sind. Großeltern wurden verehrt und Onkel, Tanten und Cousins steuerten etwas zur Verschönerung der kindlichen Umgebung bei. Vor einer Generation war die Situation in unserem eigenen Land nicht viel anders. Unglücklicherweise hat sich das für uns alle radikal geändert.

Heute geben einige Eltern ihre Kinder tatsächlich deshalb in der Krippe ab, damit diese gar nicht erst an ihnen hängen. Marilyn und ich aßen einmal mit einem anderen Paar zusammen, die unser Bezugssystem für Kindererziehung nicht voll teilten. Im Verlauf des Abends kamen wir auf Babys zu sprechen und unsere Freundin erwähnte, dass sie sich nach einem Babysitter für ihre 14 Monate alte Tochter umsehen würde, weil diese „zu sehr an Mama hängen würde“. In meinen Ohren klang das wie eine unverhohlene Entschuldigung für die Mutter, um mehr Unabhängigkeit von ihrem Baby zu bekommen. Schon dass die Mutter über zu starke Abhängigkeit der Eltern als Grund für eine Babykrippe nachdenken kann, weist auf das kranke Familienleben unserer Tage hin. Was ist denn so schrecklich daran, dass Babys in Abhängigkeit von ihren Müttern aufwachsen?

Es stimmt auch traurig, dass Kinder die Gemeinschaft mit ihresgleichen nicht zu schätzen wissen. Ich erinnere mich von einem Mann gehört zu haben, dass seine Eltern dafür sorgten, dass er als Jugendlicher von seinem älteren Bruder zur Schule gefahren wurde. Der Ältere war ein Student an derselben weiterführenden Schule. Trotzdem ließ er seinen kleineren Bruder sich auf dem Rücksitz verstecken, als sie sich der Schule näherten, damit keiner von seinen Freunden sehen konnte, wie er mit seinem jüngeren Bruder herumfuhr.

Noch trauriger war die Geschichte eines jungen Paares, das zu uns kam, um Starthilfe für ihren Heimschulunterricht zu bekommen. Der Vater war der Leiter einer kleinen Gemeindeschule in Pennsylvania gewesen, bevor sie in unsere Stadt zogen. Sie erzählten uns, dass sie ein enges Familienverhältnis hatten, bis sie hierher zogen und ihre Kinder an einer großen christlichen Schule anmeldeten. Eines Nachmittags nach dem Gottesdienst holte die Mutter ihren Zweijährigen von der Kindertagesstätte ab und fuhr in zum Ausgang, als sie an ihrem 15-jährigen vorbeikamen, der mit einer Gruppe neuer Schulfreunde in der Eingangshalle stand. Als sie vorbeifuhren sah der kleine Junge seinen Bruder, lehnte sich aus dem Auto und rief ihm zu. Der ältere drehte sich schnell um und gab vor, nichts gehört zu haben. Das war wie ein Schlag ins Gesicht für seinen kleinen Bruder. Der ältere konnte gerade noch verhindern, dass seine Macho-Freunde herausfanden, dass er sich etwas aus seinem kleineren Bruder machte.

Ein anderer Mann sagte: „Wenn einige der Freunde meines älteren Bruders ihn besuchen kamen oder mein Name fiel, dann fühlte mein Bruder sich verpflichtet, etwas darüber zu erzählen, wie dumm ich doch sei. Ich war bereits 12 Jahre alt, bevor ich herausfand, dass mein Name nicht „Dummkopf“ war.“

 

5. Sozialisation in Gruppen von Gleichaltrigen isoliert Kinder von der Welt der Erwachsenen

John Taylor Gatto sagt:

… die von mir unterrichteten Kinder machen sich nichts aus der Welt der Erwachsenen. Das spottet der Erfahrung von tausenden von Jahren. Schon immer war es die spannendste Sache für junge Leute, sehr genau zu studieren, was bekannte Persönlichkeiten so anstellten. Heutzutage möchte niemand mehr, dass Kinder erwachsen werden, am allerwenigsten die Kinder selbst …“8

Hier haben wir einen interessanten und bestürzenden Widerspruch vorliegen. Einerseits, so behauptet Gatt, hindern wir Kinder am Erwachsenwerden. Wir lassen sie so lange wie möglich in der Schule, als wenn wir sie am besten auf die Welt der Erwachsenen vorbereiten würden, indem wir sie möglichst lange von der Erwachsenenwelt fernhalten. Gleichzeitig berauben wir sie ihrer kindlichen Unschuld, indem wir ihnen immer früher Sexualkundeunterricht, Anleitung zur Sterbehilfe9 usw. geben. Es ist, als wenn wir unsere Kinder halbieren wollten, wobei der eine Teil vor der Zeit alt werden soll, während der andere für immer in einer Welt voller Skateboards und „ninja turtles“10 verhaftet bleibt.

Das ist ein wichtiger Punkt. Ich meine, dass wir für dieses große Problem wirklich eine Lösung finden müssen, wenn wir unsere Gesellschaft retten wollen. 18-jährige müssen jetzt zur Wahl gehen, aber die meisten wissen nicht, wie oder wen sie wählen sollen. Der allergrößte Teil von ihnen zeigt auch keinerlei Interesse daran. Das spiegelt eine generelle „Null-Bock“-Haltung gegenüber den wirklich wichtigen, gesellschaftlichen Themen wider.

Erwachsene scheinen Abgänger eines Gymnasiums heute nicht als Volljährige anzusehen, da sie weder Verantwortung von reiferen Menschen übernehmen könnten, noch Interessen und Wünsche eines Erwachsenen zeigen. John Quincy Adams, dessen Vater Diplomat war, bevor er Präsident wurde, verbrachte seine Jugend unter brillanten und wichtigen Persönlichkeiten. Er war nicht in einer Gruppe von Gleichaltrigen von den Erwachsenen isoliert. Er bereiste eine ganze Anzahl von fremden Ländern mit seinen Eltern und war bereits mit 14 Jahren Se­kretär des amerikanischen Botschafters in Russland. Heutzutage werden 14-jährige als kleine Kinder angesehen und selbst die, deren Charakter genügend ausgeformt ist, um jemanden umzubringen, werden für diese „erwachsene“ Tat nicht wie ein Erwachsener bestraft. Neulich hörte ich, dass etwa 90 Prozent der Schüler in der gymnasialen Oberstufe nicht wissen, was sie nach ihrem Abschluss machen wollen. Ganz sicher gibt es eine Querverbindung zwischen ihrem jahrelangen Zwangsaufenthalt in Schulgruppen von Gleichaltrigen und ihrem Mangel an Interesse und Fähigkeiten für Angelegenheiten von Erwachsenen.

Wir könnten eine Menge über den Unterschied zwischen Erwachsenen und Jugendlichen lernen, wenn wir in ihre Köpfe hineinsehen und ihre Gedankenmuster vergleichen könnten. Ich vermute, das würde uns eine deutliche Illustration der Haltungsunterschiede innerhalb der Generationen geben. Über was denken Erwachsene denn nach? Unter anderem über ihre Arbeit, Finanzen, Gesundheit, ihre Familienverpflichtungen und Instandhaltung ihres Hauses. Auch denken sie über Politik und gesellschaftliche Bedingungen nach, über die Nöte anderer und die Dienste in ihrer Gemeinde. Allgemein denken sie über Dinge von bleibendem Wert nach.

Über was aber denken Jugendliche nach? Zum Beispiel denken 17-jährige Gymnasiasten über flotte Autos, bzw. das schnelle Auto, das sie gern hätten, nach. Sie denken darüber nach, wer sich mit wem verabredet hat. Sie fragen sich, welche Zensuren sie im Examen bekommen werden, auch wenn nur wenige darüber nachdenken, zu was das Gelernte 20 Jahre (oder eher 20 Stunden) nach dem Examen gut sein soll.

Sie achten darauf uniformiert zu erscheinen, mit den richtigen Markennamen und korrektem äußeren Erscheinungsbild. Im Moment ist es in unserer Gegend gerade chic, eine Jacke und ein Sweatshirt oder Pullover mit einer freien Schulter zu tragen. Wüssten sie nur, wie lächerlich sie darin aussehen. Sie denken darüber nach, zum Baseball-Spiel Freitagnacht zu gehen. Einige von ihnen spielen mit und bauen ihr Selbstbewusstsein darauf auf, ob sie zum Zug kommen und spielen können und wie gut sie dabei sind. Manchmal verschwenden sie auch einen Gedanken daran, auf welches College sie gehen sollten, auch wenn nur wenige vier Jahre in der Schule, auf die sie gern gingen, durchhalten werden und noch weniger werden dasselbe Hauptfach die ganze Zeit über behalten. Sie überlegen, ob sie ihre Hausaufgaben erledigen und ob sie zur nächsten Party oder Tanzveranstaltung gehen sollten und wer eine Verabredung für den Schulball hat. Wenn wir ihre Gedanken lesen könnten, würden wir feststellen, dass sie sehr oft darüber nachsinnen, was andere über sie denken.

Auch stimmt es, dass wir unsere Kinder in mancherlei Hinsicht drängeln. Wir stecken sie in die Schule, bevor die meisten von ihnen die Trennung von der Mutter verkraften können. Langweilige Routine, erzwungene Inaktivität und der Druck der ständigen Konkurrenz tun ihr Übriges. Dabei wären diese Dinge sowieso niemals für irgendjemanden gut. Einige Eltern bereiten ihre kleinen Mädchen auf ein Leben voll weltlichem Narzissmus vor, indem sie sie auf die „kleine Misswahl“ vorbereiten. Manchmal sorgen Väter dafür, dass ihre Jungen in die Kinderliga kommen oder andere Wettkampfsportarten anfangen. Vielleicht erhoffen sie sich dadurch eine späte Erfüllung ihrer eigenen Wünsche nach Ruhm, die in ihrer sportlichen Amateur-Karriere nie zustande kamen. Kleine Wichte werden Jahre bevor sie einige Stunden außer Haus überhaupt verkraften können zu Babysittern und Tagesaufbewahrungsstätten gebracht.

Wir haben einen Trend geschaffen, der die Kindheit umkrempelt, und wir können das Ruder nur noch herumreißen, wenn wir zu einem biblischen, natürlichen Verständnis von Kindheit zurückkehren. Der Zweck der Kindheit ist die Vorbereitung aufs Erwachsensein. Deswegen müssten wir wissen, dass man Kinder nicht den Kontakt mit Erwachsenen verwehren sollte. Es ist schwer, jemanden für etwas passend zu machen, dem er nie ausgesetzt war.

Neulich las ich einen exzellenten Artikel über die Frauen- und Männerbewegung, der wie eine Antwort darauf anfing. Es gibt jetzt Gruppenfreizeiten für Männer, die es genießen, Mann zu sein. Eine offensichtlich ansehnliche Zahl von leitenden Angestellten mittleren Alters schlafen ganze Wochenenden im Zelt, kochen am Lagerfeuer und das alles mit viel Tamtam. Das Thema heißt anscheinend: In Indianerzelten (Tipis) voller dickbäuchiger, kahler Bürohengste mit freiem Oberkörper, die auf Trommeln und vermutlich gelegentlich auch auf ihre Brustkörbe schlagen, kann man viel gesunde, männliche Kameradschaft erfahren. Leider weiß ich nicht genügend über diese Bewegung, um viel darüber schreiben zu können, aber der Autor des Artikels schien unbeeindruckt. Er beschrieb den Leiter der Bewegung, an dessen Namen ich mich nicht mehr erinnern kann, als siebzigjährigen Wally Cox11.

Ich erwähne diesen Artikel wegen der offensichtlichen Ähnlichkeit, die seine Schlussfolgerung für die Trennung in Altersgruppen hergibt. Der Autor fasst seinen Artikel mit der Bemerkung zusammen, dass diese Männerbewegung verfehlt ist, genau wie die Frauenbewegung, auf die sie eine Reaktion gewesen zu sein scheint. Er zeigt auf, dass die Geschlechter ihre Bestimmung nicht in der Absonderung unter ihresgleichen finde, sondern in Kombination mit dem anderen Geschlecht. Wie er sagt finden die beiden Geschlechter ihre wahre Identität und Erfüllung nicht in der Isolierung voneinander, sondern im Zusammenschluss. Sein Argument macht in jeder Hinsicht Sinn.

Dieselbe Logik sollten wir auf die Integration der Altersgruppen anwenden. Kinder werden in die gesündeste gesellschaftliche Situation hineingeboren, die es überhaupt gibt. Wir aber ver­bringen den Rest ihrer Kindheit damit, sie da herauszuholen. Zu Hause, in Gemeinschaft Anderer verschiedenen Alters, erkennen Menschen ihre volle natürliche Zuneigung älteren und jüngeren Menschen gegenüber. Zu Hause lernen Kinder besser als irgendwo sonst, dass ältere Menschen zu respektieren sind und man sich um jüngere kümmert.

Natürlich lebt niemand nur zu Hause. Deshalb gehört zu einem ausgewogenen Leben auch die Einbindung in eine Ortsgemeinde, in die Nachbarschaft, den Arbeitsplatz und das Leben in der Stadt. Aber das Heim ist das Gewächshaus, in dem kleine Menschen erzogen werden, bis sie stark genug sind, den Elementen außerhalb standzuhalten.

Einst pflanzte ich einige Tomaten zu früh ein. Ich wollte ihnen einen Vorsprung verschaffen. Aber das frühe Frühlingswetter war noch nicht warm genug und die Pflanzen wurden durchs vorzeitige Aussetzen geschockt. Sie überlebten zwar, aber ein weiteres Bündel Pflanzen, das ich zwei Wochen später anpflanzte, überholte die ersten in der Entwicklung. Die erste Gruppe wuchs langsamer, war weniger üppig und trug weniger Früchte. Sie erreichten nie ihr volles Potenzial. Ich hatte ihnen einen Vorsprung verschaffen wollen, schadete ihnen jedoch unumkehrbar.

Zumindest zwei Generationen von Amerikanern haben wir bis jetzt schon dasselbe angetan. Wir haben sie zu früh aus dem Gewächshaus entfernt und ihnen falsche Wachstumsbedingungen verschafft. Wir sollten uns nicht darüber wundern, dass ihre Seelen schwach und winzig bleiben, unfähig ausgereifte Früchte hervorzubringen, auch wenn ihre Körper bereits erwachsen sind.

 

1 Papalia, Diane E. und Wendkos Olds, Sally: A Child´s World. McGraw-Hill. 1986. S. 423-424.

Hervorhebungen von Rick Boyer.

2 Holt, John: Teach Your Own (= “Unterrichte selbst.“). Delacorte Press/Seymour Lawrence. 1981. S. 48-49.

3 Übersetzt: „Aufwachsen ohne Schule.“

4 Gatto, John Taylor: Dumbing Us Down (= „Unsere Verflachung”). New Society Publischers. 1992. S. 31.

5 Bronfenbrenner, Urie: Two Worlds of Childhood (= „Zwei Welten der Kindheit“). Simon and Schuster.

6 Gordon: Home Schools (= „Schulen zu Hause“). S. 20.

7 Bronfenbrenner, S. 101-102.

8 Gatto, S. 30.

9 Ein ganzer Wissenschaftszweig, die Thanatopsychologie, befasst sich mit diesem Thema.

10 Gemeint ist eine Comic-Filmserie mit brutalen Schildkröten im Stil der „Ninja“ (= „Spion, Kundschafter“). Das waren in Geheimbünden organisierte Krieger der japanischen Feudalzeit, der sich spezieller Waffen und eines besonderen Kampfstils bediente.

11 Der amerikanische Schauspieler Wallace Maynard Cox (1924-1973) („Mr. Peepers“) spielte meist den schüchternen, ängstlichen, aber auch freundlichen Mann mit dicken Brillengläsern und einer zaghaften, hohen Stimme.