6. Schulklassen

Anhänger des Schulsystems sagen uns, dass Kinder zur Schule gehen müssen, damit ihren sozialen Bedürfnissen gedient ist. Nur in der Schule, sagen sie, lernen die Kinder mit anderen umzugehen, indem sie sich tagein und tagaus an den anderen reiben. In der Schule, so erzählen Sie uns, und nicht im beschützenden Zuhause, können Kinder lernen mit der realen Welt fertig zu werden.

Die Schulanhänger liegen falsch. Die Trennung in Altersklassen ist ein hinterhältiges und verborgenes Übel, das unserer Gesellschaft die Menschlichkeit raubt. Unsere Schulen achten sorgfältig darauf, dass ihre Gruppen aus Kindern verschiedenen Geschlechts und Rasse bestehen, aber die Altersstreuung wird nicht beachtet. Oder es wird stattdessen sorgfältig bedacht und falsch gehandhabt. Das Ergebnis ist eine zersplitterte Gesellschaft. Es gibt einen viel diskutierten Generationenkonflikt, der vorherigen Generationen völlig unbekannt war. Pfadfinderjungen waren früher als kleine Gentlemen bekannt, die alten Damen über die Straße halfen. Sie galten als schützenswerte Kinder und waren bei jedermann beliebt. Heute scheint es alten Damen besser zu gehen, wenn sie den Verkehr selbstständig bewältigen. Während viele Leute immer noch kleine Kinder anlächeln und bewundern, sind viele andere erstaunt, wenn eine Frau drei Vorschulkinder mit zum Supermarkt nimmt. Die Leute wundern sich, was eine Frau mit so vielen „Bettvorlegern“ anfangen will.

Der wohl schädlichste Effekt des Aufteilens in gleiche Altersgruppen in den Schulen ist die Entwicklung von Feindschaft. Die ständige Benotung und der Vergleich miteinander machen es den Kindern unmöglich zu vergessen, dass sie untereinander in Konkurrenz stehen. Das gab es in dem alten, aus nur einem Raum bestehenden Schulhaus nicht. In den alten Schulen gingen die Schüler zur Schule, wann immer sie konnten, und wurden dort abgeholt, wo sie von ihrem Wissen her gerade standen. Man lehrte sie, an dem Wissensstand anzuknüpfen, den sie gerade hatten, egal wie alt sie gerade waren. Einige Kinder in Pioniergebieten gingen erst als Jugendliche zur Schule, weil es vorher keine Schule bei ihnen gab. Wenn sie dann zur Schule gingen, fingen sie ganz von vorn an, weil das am Sinnvollsten war. Ein 6-jähriger konnte neben einem 15-jährigen sitzen und mit ihm dieselbe Fibel benutzen.

Die heutige Betonung auf Massenabfertigung klumpt die Kinder nach Geburtsjahr zusammen. Natürlich widerspricht das den Ergebnissen der Forschung; denn Kinder unterscheiden sich in ihren Fähigkeiten und ihrer Bereitschaft. Was die Reife z.B. anbetrifft, so hinken Jungen in diesem Alter hinter Mädchen hinterher usw. Es sollte uns nicht wundern, dass 80 Prozent der „lernbenachteiligten“ und 90 Prozent der „hyperaktiven“ Kinder Jungen sind. Aber das Schulsystem hat sich bereits entschieden, auch Fakten können sie nicht mehr umstimmen. Es ist „angemessen“, Kinder nach ihrem Alter in Gruppen zusammenzufassen und deshalb wird das so gemacht.

Wenn ein Kind zum ersten Mal in einem Raum voll mit anderen seines Alters herumguckt, fängt es an, die Welt mit ganz neuen Augen zu sehen. Es bemerkt mit einem Mal, dass es größer als einige Kinder seines Alters ist und kleiner als andere. Es ist schwerer oder leichter, länger oder kürzer im Wuchs. Es läuft schneller oder langsamer und kann manches schneller oder auch langsamer lernen. Es beginnt, sich in seinen Platz in dieser Ordnung hineinzufinden, wo es doch vorher nicht einmal von einer solchen Ordnung gehört hatte. Schnell wird es mit Tests und Noten bekannt gemacht und lernt, dass die Autoritäten es bewusst bewerten, während es selbst auch anfängt, sich einzuschätzen. Die anderen um es herum begutachten es auch und das Kind bewertet sich ebenfalls selbst.

Ein neues Paradigma ist entstanden und das Kind kann dieser Struktur beim Wachsen zusehen. Es lernt, dass der Erfolg wenig damit zu tun hat, ob seine Arbeit durch gute Qualität anderen etwas nützt. Es begegnet ja keinem sichtbaren Bedürfnis, sondern soll nur mit dem Wert der Arbeit der anderen in der Klasse verglichen werden. Wenn es das erst einmal bemerkt hat, wird jedes andere Kind im Raum zur Bedrohung. Weil es jetzt von den erreichten Zensuren her eingeordnet und mit seinen gleichaltrigen Kameraden verglichen wird, bedeutet Erfolg mit einem Mal, besser als die anderen zu sein. Sein Erfolg ist auch ein Ergebnis des Versagens anderer. Deshalb kommt solch kleinlicher Streit in Klassenzimmern auf. Es ist auch für den dauernden Druck und die Spannungen verantwortlich, über die viele Schulkinder klagen. Daher sind Kinder auch so eifrig, auf kleine Fehler in der Arbeit und im Verhalten anderer hinzuweisen. Ein Kind lernt schnell, dass es selbst besser dasteht, wenn es die anderen herabgesetzt hat.

Dieser unaufhörliche Wettkampf und Vergleich miteinander wird als „gut für die Kinder“ hingestellt, deshalb die Phrase „gesunder Wettkampf“. Es ist nichts Ungewöhnliches, wenn Erwachsene den Konkurrenzkampf in der Schule als notwendig ansehen. Im Endeffekt sagen sie damit, dass die Kinder eines Tages um ihren Arbeitsplatz werden kämpfen müssen. Daher sollen sie schon jetzt mitbekommen, wie das ist. Aus biblischer Sicht ist das unhaltbar. Christen sollen Anerkennung und Belohnung bei Gott suchen, nicht bei ihren Arbeitgebern. Neben­bei glauben wir auch, dass Gott einen Plan für jeden einzelnen Menschen hat. Wenn das stimmt, dann sollten wir keine Angst haben, dass irgendjemand uns einen begehrten Arbeitsplatz wegschnappt. Gott hat auch darin das letzte Wort.

Aber leider haben nur wenige von uns eine biblische Sicht der Dinge. Und das Aufwachsen in Gruppen von Gleichaltrigen ist mit dafür verantwortlich. Während wir meist indirekt in unseren Kindern die Überzeugung formen, dass jeder in einer Gruppe Gleichaltriger eingestuft und benotet werden muss, bringen wir ihnen bei, dass es mehr oder weniger wertvolle Menschen gibt. Wenn diese vorgefasste Meinung erst einmal Wurzeln geschlagen hat, entweicht der göttliche Bezugsrahmen durchs Fenster. Das Kind sieht sich nicht länger als ein einzigartiges Wesen eines liebenden Schöpfers, sondern als Nummer auf einer Skala.

Der Hang einer Schulgruppe voller gleichaltriger Kinder, eine Hackordnung aufzurichten, zeigt sich deutlich in einer Kindheitserfahrung, von der John Holt erzählt:

… Mit 9 Jahren befand ich mich in einer öffentlichen Grundschule in einer Klasse, in der fast alle Jungen größer und älter als ich waren … Einer nach dem anderen schlugen sie mich in der Pause, zuerst der Stärkste, dann die weniger Starken. Sie schlugen auf mich ein, bis ich zu Boden ging und/oder anfing zu weinen. Wenn ein Junge mich niedergeschlagen hatte, machte es ihm kaum etwas aus, es wieder zu tun. Es schien nicht viel Schlechtes dabei zu sein. Es war, als wenn das so laufen müsste, damit mein Platz in der Klasse gefunden werden konnte. Schließlich hatten mich alle bis auf einen Jungen namens Henry geschlagen. Eines Tages umringten uns die größeren Jungen und befahlen uns, miteinander zu kämpfen, damit alle wüssten, wer der größte Waschlappen in der Klasse wäre. Henry und ich sagten, dass wir nicht kämpfen wollten. Sie antworteten, dass sie uns beide zusammenschlagen würden, wenn wir es nicht täten. Deshalb umkreisten Henry und ich uns eine Weile, wild in Richtung des anderen boxend, während die stärkeren Jungen lachten und uns antrieben. Eine Zeitlang passierte nichts, bis einer von meinen wilden Schwingern Henrys Nase traf. Es blutete, Henry fing an zu weinen und ich auch. Aber die stärkeren Jungen waren zufrieden. Sie erklärten, dass Henry ab jetzt der größte Waschlappen in der Klasse wäre.1

Viele Male während meiner Schulzeit ist mir dasselbe passiert, obwohl ich die Hackordnung nie so deutlich abgegrenzt gesehen habe, wie in dem obigen Zitat von John Holt.

Ein Element, das mir trotzdem sehr konsequent zu sein schien, war die Art, mit der die stärkeren Jungen jede Gelegenheit begierig aufgriffen, um andere Jungen schikanieren und einschüchtern zu können. Weil ich einer der kleinsten Jungen einer Schule von ungefähr 200 Kindern war, bekam auch ich meinen Anteil dieser sadistischen Behandlung. Ich bin sicher, wenn alle Erwachsenen sich noch deutlich an alle Begebenheiten erinnern könnten, in denen sie selbst in der Schule eingeschüchtert wurden, dann würden viel mehr Leute ihre Kinder zu Hause unterrichten.

Ein sich während meiner Hochschulzeit immer wiederholendes Muster war das Schikanieren der Erstsemester durch die Zweitsemester. Das war schon Tradition, dass die Frischlinge Freiwild für jede Art der Einschüchterung und Schikanierung bis hin zur Grausamkeit waren. Interessanterweise kam die meiste Schikane von den Zweitsemestern. Die älteren Semester nahmen Frischlinge nur ab und zu mal auf die Hörner, aber die Zweitsemester schienen ständig nach solch einer Gelegenheit auszuschauen. Es schien ein ungeschriebenes Gesetz zu sein, dass sie ihr Fett im letzten Jahr weg bekommen hatten und nun das Recht hatten, andere genauso zu behandeln. Wahrscheinlich steckte in alldem ein großes Sicherheitsbedürfnis. Die Zweitsemester schienen nicht nur eifrig bei der Sache, sondern sogar zu diesem Verhalten getrieben zu werden, so als wenn sie sich mit solch einem Verhalten absichern mussten, dass sie jetzt nicht mehr die niedrigsten Kreaturen der Hackordnung wären. Jetzt gab es jemanden, der schwächer und angreifbarer als sie selbst war.

Der Einfluss der Gruppe von Gleichaltrigen macht sich in der Schule nicht nur in aggressiven, sondern auch in vielen anderen schlechten Verhaltensweisen bemerkbar:

Die Gruppen von Gleichaltrigen, in die wir die Kinder hineinzwängen, haben viele andere mächtige und schädliche Effekte. Immer wieder sehe ich junge Leute in der U-Bahn oder auf öffentlichen Plätzen, die erst 12 oder 13 Jahre alt sind, manchmal auch erst 10, Zigaretten rauchen... Der Rauch schmeckte furchtbar... Sie müssen sich sehr zusammenreißen, um nicht zu ersticken oder zu husten... Warum tun Sie das? Weil "alle anderen Jugendlichen" es auch tun, oder bald damit anfangen, und sie müssen ihnen zuvorkommen oder jedenfalls nicht hinter den anderen zurückstehen. Kurz, mit dem Rauchen freiwillig oder gezwungen anzufangen, ist eine der Zusatzleistungen des „großartigen sozialen Lebens“ an der Schule, von dem die Leute reden.

... Wenn die Kinder genügend Zeit in Gruppen von Gleichaltrigen zugebracht haben, um total von ihr abhängig zu werden (wir können Sie schon Gleichaltrigen-"Junkies" nennen), fangen sie an zu rauchen und alles nachzumachen, was ihre Gruppe ihnen vormacht. Wenn ihre Eltern Theater machen, werden sie sie anlügen und es hinter ihrem Rücken tun. Das ist jedem klar. In einigen Altersgruppen rauchen weniger Leute. Aber jedes Jahr werden es mehr Kinder, insbesondere Mädchen, und sie fangen immer früher an.

... Natürlich sind Kinder, die fast ihre ganze Zeit in Gruppen von Gleichaltrigen verbringen, von ernst zunehmender Arbeit und Angelegenheiten der Gesellschaft ausgeschlossen. Dabei haben sie fast keinen Kontakt mit Erwachsenen, ausgenommen ihrer Aufsicht. Deshalb empfinden Sie das, was „alle anderen Jugendlichen“ tun, als das Richtige, das Beste und das Einzige, was man tun sollte.

Gerade heute stehen Marilyn und ich an unserem Küchenfenster und beobachten unsere Kinder, wie Sie in unserem Hinterhof und Garten spielen. Unsere Kinder sind Meister im Modellieren mit Dreck und haben schon ein ziemlich verschlungenes System von Gebäuden und Straßen entwickelt. Was wir hier beobachteten, empfinden viele Leute als ziemlich seltsam. Wir haben vier kleine Mädchen, die im Sandkasten und sogar noch hinter dem Garten spielen. Unsere achtjährige Tochter entwickelt zusammen mit zwei ihrer jugendlichen Brüder Kreationen aus Dreck. Ich konnte nicht anders, als Marilyn zu erzählen, wie die Jungs geächtet würden, wenn sie das in der Schule getan hätten und einige ihrer Klassenkameraden gesehen hätten, dass sie etwas tun, was alle als infantil ansehen würden, und dann auch noch mit ihrer achtjährigen Schwester zusammen. Aber unsere Jungen dachten sich nichts dabei, weil es sie nicht interessiert, dass es gesellschaftlich nicht akzeptiert wird. Es ist für sie nicht infantiler, Städte im Dreck zu bauen, als für einen Ingenieur, wenn er so etwas auf dem Papier entwirft.

Aus meiner Sicht sind unsere Kinder da erfrischend anders. Sie tun, was sie gern tun und was sie brauchen, ohne gefühlsmäßige Skrupel, ob das gesellschaftlich akzeptabel ist oder nicht. Es interessiert unsere Kinder nicht, ob eine Blue-Jeans-Marke stilvoller als die andere ist. Markennamen bedeuten ihnen gar nichts, um welche Kleidungsart es sich auch handelt. Sie fühlen sich auch nicht verpflichtet, zu wissen, welche Musikgruppe gerade in Mode ist (Gott sei Dank) und sie brauchen das aktuelle Kauderwelsch der Jugendlichen oder die anderen Anzeichen der Abhängigkeit von der Gruppe der Gleichaltrigen nicht.

Auch wenn einiges vom Verhalten unserer Kinder den Gleichaltrigen als infantil erscheinen würde, so demonstrieren sie bei anderen Gelegenheiten eine ungewöhnliche Reife. Mit 15 Jahren und älter arbeiten alle unsere Söhne gegenwärtig voll in unserem Familien-Bau­unter­nehmen mit. Sie leisten die Arbeit eines erwachsenen Mannes und sind noch gut darin. Außerdem haben sie bereits einen guten Ruf in der rauen Zunft der Handwerker. Auch engagieren sie sich beim Aufpassen auf ihre jüngeren Geschwister, was ein ideales Training für sie als zukünftige Eltern ist. Meine älteren Jungs werden auch regelmäßig zu Hilfe gerufen, wenn in der Gemeinde helfende Hände beim Verrücken von Stühlen und Tischen für ein gemeinsames Essen gebraucht werden oder wenn irgendwelche Reparaturen anstehen. Der 17-jährige Tim spielt manchmal Klavier-Préludes vor oder sammelt Spendengeld für Dienste ein. Auch die 18-jährige Emily hilft dabei. Marilyn und ich schütteln immer unsere Köpfe, wenn wir unsere Jugend mit der Freiheit vergleichen, die unsere Kinder haben, um in verschiedenen Bereichen in ihrem eigenen Tempo und auf ihren eigenen Wegen zu reifen. Diese Freiheit wäre unmöglich, wenn sie abhängig von der Zustimmung einer Gruppe von Gleichaltrigen wären.

 

1 Holt, John: Teach Your Own (= „Lehre dich selbst“). New Society Publishers. 1992. S. 47-50.