1. Das Schulsystem

Was nützt die Schulstruktur den Kindern eigentlich gesellschaftlich? Im Grunde isoliert es sie von ihrer Umgebung. Es versetzt sie in eine irreale Welt und trennt sie von der wirklichen. Es lehrt sie, unwichtige und irrelevante Dinge hoch einzuschätzen. Es erstickt ihre Neugier auf das Leben außerhalb ihrer eigenen Gruppe von Gleichaltrigen. Es lehrt sie, dass einige Leute wertvoller sind als andere. Es ermutigt sie, wie jedermann sonst sein zu wollen und ihre Individualität wegzuwerfen. Es sorgt dafür, dass sie sich minderwertig und unwichtig fühlen. Es enthält ihnen Gelegenheiten vor, mit anderen zu reden. Die Art der Schulstruktur sorgt praktisch dafür, dass Kinder mit ungesunden sozialen Einstellungen aufwachsen.

Das alles kommt hauptsächlich daher, dass die Schule sich so stark von der wirklichen Welt unterscheidet. In der realen Welt leben und arbeiten Leute aller Altersklassen miteinander. Die Schule dagegen trennt Menschen nach Altersgruppen, so dass die natürliche Dynamik, die Respekt für Ältere und Rücksicht gegen Jüngere entstehen lässt, nicht mehr greifen kann. Ein anderer Unterschied ist, dass Leute in der realen Welt arbeiten, um Produkte und Dienstleistungen hervorzubringen. In der Schule lernen die Schüler nur um des Lernens willen und um anderen die Gelegenheit zur Beurteilung des Geleisteten zu geben. Dabei kommt kein Produkt heraus, auch keine Dienstleistung, kein Zweck, keine Befriedigung und kein Ergebnis.

Die Schulstruktur bereitet gut auf eine Welt vor, die es gar nicht gibt. Es lehrt Kinder, dass Arbeit sinnlos ist, was sie doch in Wirklichkeit nicht ist. Die Kinder lernen, dass Kreativität mit dem Ringen der Schulglocke an- und abgeschaltet werden kann. Außerdem unterweist es sie, dass alle Leute dasselbe denken, arbeiten und tun sollten, was doch nicht sein sollte.

Leider ist die Trennung nach Altersklassen nur eine Sache von vielen Unnatürlichkeiten, die die Eindrücke von Kindern in der Schule formen. Im System wie wir es heute handhaben gibt es eine ganze Bandbreite von Faktoren, und sie verdienen alle Beachtung.

Ein Faktor ist der so genannte „gesunde Wettkampf“ in den wissenschaftlichen Fächern. Die Kinder lernen früh in ihrer Schulkarriere, dass jede ihrer Taten mit denen der anderen in der Klasse verglichen wird. Von Beginn an werden sie trainiert, ein System von Goldsternchen, Prozenten und Klassenspiegeln hoch zu achten, die überall in der realen Welt nutzlos sind.

Dieses Gerede über „gesunden Ehrgeiz“ wirkt sogar in die Welt außerhalb des Lehrplans hinein. Beispielhaft dafür ist die nicht mehr hinterfragte Idee, dass Team-Sportarten der beste Weg sind, um Team-Geist zu entwickeln. Kennen sie das? „Wenn sie ihre Kinder zu Hause unterrichten, werden sie bei keinen Team-Sportarten mehr mitspielen können. Sie werden solche guten Gelegenheiten der Charakterbildung verpassen.“ Wirklich?

Zunächst einmal kann es nur einen Quarterback („Libero“) geben. Damit sind Team-Kameraden bereits bis zu einem gewissen Grad Konkurrenten. Damit die Nummer zwei eine Chance zum Mitspielen bekommt, muss die Nummer eins ausgebootet werden. Wenn das nicht klappen sollte, könnte eine Verletzung die Nummer eins auf die Ersatzbank schicken, und in den meisten Fällen würde sich die Nummer zwei darüber freuen. Das ist etwas ganz anderes als das biblische Konzept vom gegenseitigen Erbauen, aber hier handelt es sich ja auch um eine Schule, nicht um eine Gemeinde oder Familie. Ich denke, meine Erfahrungen an der gymnasialen Oberstufe und der Hochschule waren typisch dafür. Es gab einige Schulen in unserem Gebiet, die lediglich verfeindet waren, aber einige waren auch Erzrivalen. Während meiner ersten Jahre an der Hochschule bekam ich zusammen mit einigen Freunden eines Nachts beinahe richtigen Ärger, nur weil unser Team ein Basketball-Wettkampf mit einem Punkt Vorsprung gewonnen hatte. Nicht die Schulglocke, sondern die Flucht von Newton in Kansas nach Wichita mit knapp 180 Km/h hat uns gerettet.

Schulwettkämpfe wären vielleicht nicht schädlich, wenn sie immer auf einem freundschaftlichen Niveau gehalten würden. Das scheint aber unmöglich zu sein. Genau wie bei den Rivalitäten der alten schottischen Bergclans hält die Konkurrenz an und verstärkt sich sogar noch. Eine Schule verliert ein heiß umkämpftes Spiel – vielleicht wegen Betrug oder einem Schiedsrichterfehler – und im nächsten Jahr kommen die Wettkämpfer zurück und wollen Rache nehmen. Dann meinen sie, die Ellbogentaktik wäre angebracht und das gegnerische Team zahlt es ihnen mit gleicher Münze heim. Einige Jahre später hat sich die Fehde entwickelt und wie im Gewirr des Dschungels erinnert sich schließlich niemand mehr an den ursprünglichen Grund, sondern nur daran, dass die Gegner die Bösen sind. Auf diese Art und Weise lehren wir unserer Kinder, die Anderen nicht als Individuen mit Bedürfnissen und Gefühlen zu sehen, sondern als Mitglieder irgendeiner Gruppe. Anders ausgedrückt trainieren wir sie in Ethnozentrismus1.

Wir brauchen kein ausgedehntes, klug durchdachtes System von Turnhallen und Schulen, um unseren Kindern Zusammenarbeit und Teamwork beizubringen. Wir brauchen das, was überall um uns her schon vorhanden ist: sinnvolle Arbeit und gesundes Spiel mit einer Sensitivität für die Bedürfnisse anderer, statt für unser eigenes Ansehen.

Das geschieht eher zu Hause, als sonst irgendwo. In der eigenen Familie lernt jeder, dass er wichtig ist. Wir Boyers brauchen einander alle – vielleicht sogar mehr, als in anderen Familien, weil wir so viele sind. In einem 14-Personen-Haushalt gibt es immer einen Jüngeren, dem Wackelpudding aus dem Gesicht oder von den Händen gewischt werden muss, oder ein Älterer, dessen Schaukel man anschubsen oder dem man eine ruhige Hand leihen und irgendwo hinfahren muss. Wir brauchen einander in unzähligen Fällen. Meine älteren Kinder helfen mir im Familienbetrieb und -dienst. Wir alle bringen uns zu einem großen oder kleineren Teil in Familienarbeiten ein – einschließlich Wäschewaschen in rekordverdächtigem Umfang.

In der Gemeinde sollte es ebenfalls um Zusammenarbeit gehen. Es ist Aufgabe von Gläubigen, sich um die Nöte anderer und um die Ungläubigen zu kümmern. Wenn das so ausführlich wie nötig praktiziert würde, dann würden wir viel mehr geistliche Frucht und viel weniger Gerede oder Gemeindepolitik erleben.

Ein simpler Vorfall brachte mir eine Lektion über Teamwork bei, der mir aus irgendeinem Grund viele Jahre im Gedächtnis geblieben ist. Mit einem Freund brach ich ein altes Haus ab. Wir durften soviel vom Abbruch behalten, wie wir wollten. Viel von dem Holz war wegen seines Alters in schlechtem Zustand, aber jemand hatte erst kürzlich renoviert und ich entdeckte einen tragenden Balken, der aus mehreren zusammengenagelten Einzelteilen bestand. Ich mochte den Anblick dieser paarweise verbundenen Bretter, deshalb hängte ich die Spitze meiner Brechstange in einen Spalt zwischen zwei Bretter und versuchte sie auseinanderzustemmen. Natürlich rollte mir der Pfosten weg. Ich versuchte mit dem Fuß drauf zu stemmen, aber selbst mein Fuß war nicht schwer genug, um die Hebelwirkung abzufangen. Als ich mich nach einer Möglichkeit den Pfosten einzuklemmen umsah, sah Jerry mein Dilemma und kam herüber, bevor ich nur daran denken konnte, ihn um Hilfe anzugehen. Er steckte seine Brechstangenspitze in denselben Spalt und stemmte in die entgegengesetzte Richtung. Die Bretter des Pfostens lösten sich voneinander.

In der realen Welt lernt man Teamwork auf andere Art als in der Schule. In der Schule findet Teamwork normalerweise seinen Ausdruck im Sportunterricht, in Spielen, in Buchstabierwettkämpfen usw. Als ich noch in der Schule war, liebte ich all das, und ich ziehe nicht in Zweifel, dass es mit viel Freude an der Sache geschehen kann. Trotzdem bleibt es Tatsache, dass die Charakterbildung in vielen Fällen, insbesondere bei sportlichen Wettkämpfen, von einer Aura des Ethnozentrismus, des Narzissmus und der Sucht nach Anerkennung begleitet wird.

Aufteilung nach Alterklassen oder soziale Schichtung wird noch durch ein Phänomen verschärft, das als Etikettierung bekannt ist. Kinder nach angeblichen Fähigkeiten zusammenzufassen und andere Formen der Etikettierung wurden schon als schädlich aufgezeigt, aber das System stützt sich so stark darauf, dass bisher nur geringe Fortschritte zu ihrer Beseitigung unternommen werden konnten.

Die vieldiskutierte Theorie der Lernbehinderung ist jetzt schon einige Jahrzehnte lang in Mode und bleibt weiterhin ein beliebter Sündenbock für das Versagen der Schule. Die Dyslexie2, der jedermann die Schuld gibt, auch wenn niemand sie versteht, wird für eine Vielzahl von Leseschwierigkeiten verantwortlich gemacht, obwohl die Lese- und Schreibfertigkeit in einigen Ländern genau oder nahe bei 100 Prozent liegt. Nach einer Theorie sehen die Kinder die Buchstaben falsch herum und schreiben sie deshalb auch so. Das strapaziert meine Leichtgläubigkeit ein wenig zu stark. Stellen sie sich eine offene Tür vor. Ihre Scharniere sind an der linken Seite und die Tür öffnet sich zu ihnen hin. Wenn sie weit geöffnet ist, befindet sie sich auf der linken Seite und der Durchgang ist rechts. Haben Sie je einen Dyslexiker gesehen, der die Lage der Tür und des Durchgangs in seiner Wahrnehmung verwechselt hätte und in die Tür hinein gelaufen wäre?

Etikettierung kann sich selbst erfüllende Prophezeiungen hervorbringen. Die Leute zeigen eine sehr starke Tendenz, das zu tun, was von ihnen erwartet wird, und das steigert sich bei Kindern noch, besonders wenn man an die offensichtliche Allwissenheit und Allmacht der Erwachsenen denkt, die Autorität über sie ausüben.

Es ist zufriedenstellend für Schulen, mysteriöse Übel für akademische Fehlleistungen verantwortlich zu machen, weil es einerseits die Schule als schuldlos darstellt und andererseits normalerweise mehr Geld ins System bringt; denn das Ministerium gewährt Extragelder für jedes Kind, bei dem Dyslexie „diagnostiziert“ wurde. Auch die Eltern sind erleichtert, weil Dyslexie weder als fehlende Intelligenz auf Seiten des Kindes angesehen wird, noch als Versagen auf Seiten der Eltern.

In einem Artikel aus dem Wall Street Journal (ich habe das genaue Datum nicht) gibt John Gatto, der 1991 Lehrer des Jahres der Stadt New York wurde, seine Meinung über Dyslexie weiter:

David lernte im Alter von vier Jahren lesen, Rachel im Alter von neun. Wenn beide 13 geworden sind und sich normal entwickelt haben, kann niemand sagen, wer es von beiden zuerst gelernt hat. Die fünf Jahre Abstand bedeuten nichts. Aber in der Schule würde ich Rachel als Lernbehinderte einstufen und David ein bisschen bremsen ... Ich etikettiere Rachel mit dem Aufkleber: „geringwertige Ware“, „Förderunterricht nötig“. Nach einigen Monaten wird sie von diesem Urteil über sie nicht mehr wegkommen.

26 Jahre lang habe ich sowohl reiche, als auch arme Schüler unterrichtet. So gut wie nie ist mir ein Kind begegnet, das „unfähig zum Lernen“ war. Aber ich habe auch kaum eins gesehen, dass „begabt und talentiert“ war. Wie alle Schulekategorien, so gehören diese beiden scheinbar ebenfalls zu den heiligen „Legenden“, die von der menschlichen Fantasie hervorgebracht worden sind.

Aber viele Schulangestellte brennen darauf, überall Lernbehinderungen zu sehen, und schaffen es „zufälligerweise“, viele davon zu diagnostizieren. Schätzungen geben bis zu 2 Millionen Schüler oder 30 Prozent aller amerikanischen Schulkinder an. In einem Artikel wird gesagt:

Viele Kinder mit normaler Intelligenz haben große Schwierigkeiten das Lesen, Schreiben oder den Umgang mit Zahlen zu lernen. Sie können perfekt sehen und hören, haben aber Schwierigkeiten mit der Verarbeitung der Sinneseindrücke. Ein Kind drückte es so aus: ’Ich weiß es in meinem Kopf, aber ich kann es nicht zu meiner Hand weiterleiten.’“3

Oft fühlte ich mich in der Schule genauso. Ohne Zweifel ist vieles davon durch den emotionalen Druck der Schule verursacht, der auf die Kinder ausgeübt wird, während sie noch sehr jung und empfindsamer als später sind. Einiges davon ist einfach nur falsch diagnostizierte Unerfahrenheit oder Unreife. Als unsere Tochter Katie Schreiben lernte, sandte sie meiner Mutter ein Brief mit einem kleinen „p“ oder „d“, das verkehrt herum geschrieben war. Jemand sah das und folgerte sofort, dass sie Dyslexie hatte. Katie ist heute 11 Jahre alt und schreibt Tag und Nacht Geschichten und Dialoge, die selbst einem erwachsenen Schreiber Ehre machen würden.

Es ist nichts weniger als ein Verbrechen an Kindern, wenn man sie lehrt, dass sie in Qualität und Wert niedriger als andre einzustufen sind. Tomas Edison brach die Grundschule ab und wurde zu Hause von seiner Mutter unterrichtet, weil der Lehrer ihn als „faul und verwirrt“ eingestuft hatte. Benjamin Franklin besuchte die Schule nur zwei Jahre lang. Während dieser Zeit dachte man, dass er exzellent im Lesen, leidlich im Schreiben und schwach in Arithmetik wäre. Er brachte sich alles selbst bei und wurde einer der größten und bekanntesten Gelehrten in der Welt. Der Präsident der amerikanischen Lehrervereinigung, Albert Shanker, stellte einmal einer Gruppe von Schülern, die mittelmäßig oder darunter eingestuft wurden, folgende Frage: „Was sollten wir euch zum Lesen geben?“ Ein Junge hob vorsichtig seine Hand. „Herr Shanker“, sagte er. „Was lesen die klugen Kinder?“ Er hatte bereits die Einschätzung der Schule internalisiert, dass er nicht zu den „klugen Kindern“ gehörte.

Was muss das bei Kindern anrichten? Wie können wir erwarten, dass sie die Erwachsenenwelt betreten und ihr Bestes geben, wenn wir so viele Jahre darauf verwenden sie zu überzeugen, dass ihr Bestes nicht ausreicht? Neulich hörte ich von einem Medizintest, eine Art Biopsie4 denke ich, der ausgearbeitet wurde, um menschliche Beinmuskeln zu testen und festzustellen, ob ein Proband die körperliche Möglichkeit hat, den Muskel eines preisgekrönten Marathonläufers aufzubauen. Wenn wir annehmen, dass dieser Test medizinisch korrekt ist, dann kann er uns vielleicht etwas nützen. Auf der anderen Seite kann man sich nur darüber wundern, wie viele Leute mit einem mittelmäßigen Muskelaufbau nach dieser Biopsie eher glauben, dass sie niemals Gewinner sein können. Vielleicht besitzen viele von ihnen Charaktereigenschaften, die ihre mittelmäßige physische Kondition mehr als ausgleichen und sie zu Siegern machen würde. Dasselbe gilt für Einschätzungen und Bewertungen durch die Schule. Selbst wenn sie stimmen würden, und da habe ich so meine Zweifel, wozu sollen sie gut sein? Angeblich helfen sie uns, Schüler nach ihren Fähigkeiten zu gruppieren, damit wir nützliche Methoden und hilfreiches Material entwickeln können. Offen gesagt habe ich sehr wenig Vertrauen in unsere Fähigkeit, Kinder angemessen einzuordnen. Außerdem bin absolut davon überzeugt, dass wir ihnen damit mehr schaden als nützen, weil die Kinder durch die Bewertungen überzeugt sind, dass ihre Zukunft mehr eine Sache der Vorherbestimmung, als des Durchhaltevermögens ist.

Daraus können wir sehen, dass die Schuletikettierung sich unter anderem deshalb selbst erfüllt, weil sie einen Effekt auf die Sichtweise des Kindes von sich selbst hat. Aber vielleicht genauso oder noch wichtiger ist der Effekt der Etikettierung auf die Meinung des Systems über den Schüler.

Urie Bronfenbrenner schreibt über wirtschaftlich benachteiligte Kinder:

Alle sozialen Ermutigungen, die ein Kind in der Schule erhält, könnten leicht eher von seiner Etikettierung als „benachteiligt“ kommen, als in seinem aktuellen Verhalten begründet zu sein. Ein konkretes Beispiel dieses Zusammenhangs ist nützlich, weil es sowohl einen falschen Rückbezug auf den „Grund“ und spätere unangemessene Handlungen, die von diesem Rückbezug stammen, aufzeigt. Stellen wir uns eine Lehrerin vor, die bemerkt, dass zwei ihrer Schüler schwach sind, und eine Erklärung dafür sucht. In ihrem Bericht wird Don, einer dieser Schüler, als „benachteiligt“ eingestuft, während Albert, der andere Schüler, aus einer Mittelklasse-Familie kommt. Bei Don kann sie die schwache Leistung sehr leicht zuordnen, weil er „benachteiligt“ ist und man von ihm nicht erwarten kann, es gut zu machen. Was Albert anbetrifft, hat sie keine so leichtfertige Meinung, und wird deshalb wahrscheinlich den Grund für seine schwache Leistung bei sich selbst suchen. Als Folge davon verhält sie sich den beiden Jungen gegenüber völlig verschieden. Albert bekommt mehr Aufmerksamkeit, Don dagegen weniger, weil die „Gründe“ für sein Versagen „außerhalb ihrer Kontrolle“ liegen. Im Folgenden wird sich Alberts Leistung verbessern, während Dons Können noch weiter nachlässt – und so das Vorurteil des Lehrers und der Schule bestätigt… In … Experimenten wurden Lehrer darüber informiert, dass von einigen ihrer Schüler im Verlauf des Jahres erwartet werden konnte, dass ihre schulischen Leistungen sich wesentlich steigern würden. Diese als „Spurter“ gekennzeichneten Kinder waren in Wirklichkeit zufällig ausgewählt worden. Die Ergebnisse zeigten, dass gerade die Kinder, von denen die Lehrer bessere Ergebnisse erwarteten, tatsächlich an objektivierten Tests gemessene deutliche Verbesserungen zeigten. Die größten Zunamen fand man in der ersten und zweiten Klasse, wo der mittlere IQ um 27 bzw. 16 Punkte zunahm.5

Der an Selbstvertrauen, Motivation und Selbsteinschätzung verübte Schaden bei den niedrig eingeschätzten Schülern ist noch nicht alles. Die ständige materialistische Einschätzung der Kinder hat auch eine schwerwiegende Auswirkung auf die besseren Schüler. Ein sozialer Keil wird zwischen die Kinder getrieben und man sieht kaum jemals, dass Kinder einer bestimmten Leistungsgruppe sich in nennenswerter Zahl unter Gruppen eines anderen akademischen Levels mischen.

Stattdessen entwickeln Kinder oftmals eine grollende Haltung gegen offensichtlich bevorzugte Schulkameraden. Erwachsene besitzen Statussymbole in Form teurer Autos oder Häuser, Schüler haben das genauso in ihrer Art. Daraus entwickelt sich manchmal Klassenneid und Groll – wie in der Welt der Erwachsenen auch.

Sie können einander mit unmenschlicher Grausamkeit behandeln. Schüler können andere ablehnen, nur weil diese „zu klug“ oder „zu kreativ“ sind. Um das zu vermeiden, verstecken viele Jugendliche ihre Intelligenz, was sie zu Hause lesen und ihre wirkliche Meinung. Das Leben in der Gruppe Gleichaltriger wird deutlich einfacher, wenn sie als „zweitrangig“ eingestuft werden, statt als „erstrangig“ zu gelten, wozu sie fähig wären.6

John Holt sagt, dass logisch aufgebaute Einstufungstests für Anfängerkurse noch nicht einmal entworfen sind:

Theoretisch sollten Schüler nach ihren Fähigkeiten in Kurse eingeteilt werden. In der Praxis werden sie sofort bei Schulbeginn in Kurse gestopft, lange bevor sie zeigen konnten, welche Fähigkeiten in ihnen stecken. Einmal auf ein Niveau festgelegt, schaffen nur wenige Schüler einen Wechsel. Eine Lehrerin einer zweiten Klasse in Chicago erzählte mir einmal, dass es in ihrem Anfänger-Kurs voller armer nicht-weißer Kinder zwei oder drei gab, die außerordentlich gut in der Schule waren. Weil diese Schüler alles Beigebrachte schnell und gründlich lernten, gab sie ihnen immer ein „sehr gut“. Kurz nachdem sie ihre erste Klasse übergeben hatte, rief sie der Rektor zu sich und fragte sie, warum sie einigen ihrer Schüler ein „sehr gut“ erteilt habe. Sie erklärte, dass diese Schüler richtig helle wären und all ihre Aufgaben erfüllt hätten. Er ordnete an, dass sie ihre Noten herabsetzen solle, weil diese Schüler nicht in die niedrigsten Kursgrade eingeteilt worden wären, wenn sie ein „sehr gut“ erreichen könnten. Aber als die Lehrerin das nachprüfte, fand sie heraus, dass diese Kinder bereits kurz nach ihrem Schuleintritt in die niedrigsten Leistungsgrade eingeteilt worden waren.7

John Gatto erzählt eine Geschichte aus seinen frühen Unterrichtsjahren, in der ein Mädchen einer dritten, leseschwachen Klasse durch einen Vorlesetext ihres Lesebuchs regelrecht flog, ohne ins Stocken zu geraten. Als sie gefragt wurde, warum sie in der Langsamlese-Klasse war, antwortete das Mädchen, dass „sie“ (gemeint waren die Lehrer) ihrer Mutter erklärt hätten, dass sie schlecht im Lesen wäre, auch wenn sie sich in ihrer Fantasie selbst als gute Leserin sehe. Gatto bat das Mädchen, ihm aus dem Buch der sechsten Klasse vorzulesen und wieder schaffte sie das fehlerlos. Das überzeugte ihren Lehrer, dass sie im falschen Lesekurs war und er trug ihren Fall der Rektorin vor, die unwillig abwinkte. Sie erzählte dem Lehrer, dass sie es nicht schätzen würde, wenn er ihr vorschriebe, wie sie die Schule zu leiten hätte. Außerdem könne er nicht das Urteil der Experten anzweifeln, weil er keine speziellen Lesekurse hätte. Gatto bestand jedoch auf einer Überprüfung, so dass die Rektorin schließlich zustimmte, das Mädchen selbst zu testen. Einige Wochen später kam das Mädchen in Gattos Klassenraum vorbei und erzählte ihm, dass sie jetzt im höchsten Lesekurs wäre und gut mitkommen würde.8

Zusammen mit der Einteilung in Kurse ist das Testen ein weiterer Weg zur Klassifizierung, mit dem Schüler in der Schule entmenschlicht werden. Tests sind bei der Massenabfertigung in Schulen nötig, weil die Schüler nicht individuell eingestuft oder instruiert werden können. Genau wie die Kurseinteilung dienen auch die Tests dazu, Schüler daraufhin einzuschätzen, wie gut sie ins System passen.

Tests haben einen gewissen Wert, aber gleichzeitig auch schwerwiegende Einschränkungen. Sie können nur die Testinhalte abfragen, was nur ein Bruchteil des in der Klasse durchgenommenen Stoffs und der Texte ist. Sie können nicht so aufgebaut werden, dass sie alles zeigen, was ein Schüler über ein bestimmtes Fachgebiet weiß, aus welchen Quellen er das Wissen auch immer haben mag. Ein findiger Prüfling wird in seinen Aufsätzen die Meinungen des Lehrers niederschreiben und in Multiple-Choice-Tests seine Chancen durch Verwerfen des Unsinnigen erhöhen. Natürlich beeinflussen viele Faktoren außerhalb des reinen Wissens die Zensuren eines Schülers, z.B. seine Stimmung, Gesundheit und angemessener Schlaf die Nacht zuvor.

Trotz ihrer offensichtlichen Mängel verlässt man sich weiterhin hauptsächlich auf die Tests, wenn man Schüler einordnen will. Dabei verraten die Tests mehr über die Fähigkeit eines Schülers zu schlucken und wieder auszuspeien, als über seine Lernmotivation. Trotzdem werden sie benutzt, um Menschen in der Schule, bei der Studienplatzvergabe und der Position innerhalb der Streitkräfte einzuordnen.

All das ist schlecht für die Schüler, die zwar gut lernen können, aber Prüfungsangst haben. Einige Lernende nehmen schnell auf, können sich aber nicht so gut ausdrücken, wenn es um Formulierungen in Aufsätzen, Aussieben von Unsinnigem bei Multiple-Choice oder Lückentexte geht.

Unsere Neigung, alles zu testen, was Kinder tun, führt dazu, dass sie immer an den Beurteilungsprozess denken müssen. Wer in Tests gut abschneidet, kann sich aufspielen, aber das sind nur 10 Prozent der Klasse. Die restlichen 90 Prozent werden stets erinnert, dass sie nicht mithalten können – jedenfalls was die Tests anbetrifft. Gleichzeitig bringen wir den Jugendlichen bei, so für den Test zu lernen wie ein Athlet für den Wettkampf trainiert. Der Test wird als ultimativer und logischer Höhepunkt jeder Lernanstrengung gesehen. Vielleicht vergessen wir deswegen kurz nach dem Test so viel vom Gelernten.

Das Schulsystem bringt Schülern außerdem Passivität bei. Einem Kind wird zwar gesagt, dass es in der Schule ist, um etwas zu tun, aber es merkt bald, dass etwas mit ihm getan werden soll. Ein Lernender ist nicht in der Schule, um etwas zu formen, sondern um geformt zu werden. Die Schule sieht einen Schüler (und lehrt ihn schließlich, sich selbst auch so zu sehen) als Behälter, der gefüllt werden soll, als Trophäe, die man abstaubt und als Sinfonie, die noch komponiert werden soll. Das Kind ist das Produkt: der gebildete mensch.

Die meisten Kinder sind sich nicht sicher, wozu sie in der Schule sind. Wenn ich meine Eltern nach dem Grund fragte, war ihre Antwort zwiefältig: weil das Gesetz es dir vorschreibt und du später nicht Löcher graben musst, um etwas zu verdienen. Auf keinen der beiden Gründe war ich versessen, aber nach meiner Meinung wurde nicht gefragt und ich ging zur Schule.

Schüler gehen nur deshalb zur Schule, um zu lernen, wie man die Arbeit tun sollte. Das steht im Gegensatz zur realen Welt, wo Arbeit einen Wert hat, weil Produkte und Dienstleistungen hergestellt werden, die reale Bedürfnisse lebender Menschen stillen. Kinder wissen, dass die Arbeit in der Schule nur eine Simulation ist, dass sie nicht arbeiten, um ein Bedürfnis zu stillen, sondern damit jemand beurteilen kann, wie gut es erledigt wurde. Wenn sie einen Bericht schreiben, dann nicht deshalb, weil jemand die Informationen darin benötigen würde, sondern sie schreiben für jemanden, der lediglich sagen soll, ob alle benötigten Informationen in der richtigen Form enthalten sind. Jede Aufgabe ist eine Trockenübung. Man sollte annehmen, dass dieser endlose Kampf gegen Windmühlen jeden verrückt machen würde, insbesondere jemanden mit der Kreativität und Neugier eines Kindes.

Ich habe einen Freund, der jetzt viele Jahre lang Pädagogik-Professor an einer christlichen Universität gewesen ist. Er meint, man sollte Schülern Aufgaben geben, bei denen die Schüler selbst herausfinden müssen, welche Lerninhalte dazu notwendig sind, statt ihnen eine Liste seiner Erwartungen zu geben, die sie auswendig lernen und dann wiedergeben müssen. Ich fragte einmal eine seiner Studentinnen, was sie von ihm als Lehrer halten würde. Sie antwortete, dass er ein sehr freundlicher Mann sei, aber als Lehrer würde er sie verunsichern, weil es schwer sei herauszubekommen, „was er erwartet“. Sie wurde in einem System gründlich gelehrt, in dem Lernen nicht der Erfüllung eines nachvollziehbaren Bedürfnisses diente, sondern nur zur Erfüllung der Anforderungen des Systems und zur Erlangung der künstlichen Belohnungen. Sie sah diese Klasse nicht als gute Gelegenheit an, etwas nützliches Wissen zu erlangen, sondern als Zeit, um die Wünsche des Lehrers herauszubekommen und zu erfüllen und als Gegenleistung eine gute Note zu bekommen. Das funktioniert nach dem Motto: Spring durch den Reifen und werde mit Hundefutter belohnt. Frag nicht danach, was der Springreifen dort soll.

Einmal arbeitete ich als Vorarbeiter auf dem Bau, wo wir Studentenwohnheime herstellten. Die meisten meiner Arbeiter waren College-Studenten in den Sommerferien. Dieser Sommer ermöglichte mir einen kleinen Einblick ins Denken unserer modernen „Schulfrüchtchen“. Etwa die Hälfte der Jungs war eine wirkliche Hilfe. Die andere Hälfte konnte bestenfalls als Studienobjekt der menschlichen Natur dienen. Diese Jugendlichen kamen zur Arbeit, aber nicht um zu arbeiten. Sie entwickelten keine Initiative und zeigten kein Interesse, weder etwas über die Arbeit zu lernen, noch irgendwelche Aufgaben zu erledigen. Sie rissen ihre Stunden ab und strichen ihren Lohn ein, standen aber so lange wie sie nur konnten in den unfertigen Räumen herum, um Zeit totzuschlagen. Die meisten von ihnen waren freundliche, fröhliche und nette Leute. Aber sie schienen die Tatsache, dass sie an der Arbeit waren, nicht mit der Idee zu verbinden, dass irgendetwas erledigt werden müsste. Sie akzeptierten willig ihre Bezahlung. Es schien ihnen aber nicht in den Sinn zu kommen, dass sie das Geld als Bezahlung für Arbeit bekommen hatten.

Ich schrieb all dies dem jugendlichen Leichtsinn zu, in späteren Jahren aber schien es mir das logische Resultat ihrer Ausbildung zu sein. Es war kein Wunder, dass sie glaubten, sie hätten ihre Verpflichtung der Firma gegenüber schon damit erfüllt, dass sie einfach anwesend waren und keinen Ärger machten. Diese Haltung, alles zu tun, was man eben zu tun hat (das heißt so wenig wie möglich tun), steht in deutlichem Kontrast zur Lehre unseres Herrn in Lukas 17,10, dass wir unnütze Diener sind, die nur tun, was sie zu tun schuldig sind. So sehen also die sozialen Werte aus, die von der Institution Schule einkalkuliert werden.

Eins der Verbrechen, das wir regelmäßig gegen Kinder verüben, ist zu verhindern, dass sie gebraucht werden. Wir bringen Ihnen bei, dass Sie uns brauchen. Wir brauchen sie angeblich nicht. Es gelingt uns, sie vom Rest der Gesellschaft abzusondern, bis sie erwachsen, gebildet und deshalb für irgendetwas gut sind. Jetzt aber, d. h. von 5 bis 18 Jahren, begegnen wir ihren Bedürfnissen mit hoch geschraubten Techniken und Technologie, indem wir ihnen Dinge beibringen, die sie vermutlich auf andere Art und Weise gar nicht lernen könnten. Ist es ein Wunder, dass so viele Erwachsene egoistische, sozial kurzsichtige Personen sind, die kein Ziel und keinen Sinn in ihrem Leben sehen? Schließlich sind sie gewohnt bedient zu werden, nicht zu dienen.

Das Schulsystem ist ein Ungeheuer. Es nimmt immer mehr der Funktionen weg, die Gott und die Natur der Familie zugedacht haben. Dabei bläht es sich zu einem gigantischen Monster auf, das die Zeit eines Kindes dominiert. Wir erwarten von Schulen, dass sie Kindern Grundfertigkeiten, Kulturhaltungen und sogar etwas über den Tod beibringen. Im Ergebnis sind Kinder so sehr damit beschäftigt, die verschiedenen Aspekte des Lebens zu studieren, dass ihnen keine Zeit bleibt, ihr Leben zu leben.

Das ist teilweise beabsichtigt. Wer in außergewöhnlichen Bildungseinrichtungen gearbeitet hat, wie solchen, die erwachsenen Analphabeten das Lesen beibringen, weiß, dass in der Schule viel mehr Zeit verbracht wird, als zum Erlernen der Materie benötigt wird. John Holt hat herausgefunden, dass man zum Erlernen des Lesens nur ungefähr 30 Stunden benötigt, wenn die Person motiviert ist und lesen will. John Taylor Gatto behauptet, dass es viele Beweise dafür gibt, dass die Leute in ungefähr 100 Stunden Lesen, Schreiben und grundlegende Arithmetik lernen können, dass sie also mit anderen Worten lernen können, sich in Zukunft selbst zu unterrichten. Der Schlüssel dafür ist, so Gatto, zuzupacken, wenn die Person ein Verlangen kundtut etwas lernen zu wollen und dranzubleiben, solange diese Stimmung anhält. Das reglementierte Schema einer durchschnittlichen Schule ermöglicht nur wenig der dafür nötigen Flexibilität.

Natürlich wird das in den öffentlichen Schulen nicht in dieser Weise gehandhabt. Wir nehmen an, dass alle Kinder bereit sind, zur gleichen Zeit dasselbe zu lernen. Niemand kümmert sich darum, dass kleine Jungen später als Mädchen das Schuleintrittsalter erreichen. Es ist bloßer „Zufall“, dass Jungen 80 Prozent der benachteiligten und 90 Prozent der hyperaktiven Kinder stellen. Niemand interessiert es, dass Kinder verschiedene Interessen und Lernstile haben. Sie werden einfach alle durch dieselbe „Mühle“ gedreht.

Diese Herangehensweise sichert genügend Lernprobleme, so dass es immer Arbeit für Professionelle gibt, die ausgebildet wurden, um solchen Problemen zu begegnen, solange sie fortdauern. Und die Dehnung von 3 Jahren Lernstoff auf 5 Jahre, um 12 Schuljahre füllen zu können, wird vielen Lehrern, Schulbuchredakteuren, Herausgebern und Organisatoren auch in Zukunft genügend Arbeit bescheren.

Unglücklicherweise sind die Kinder die Verlierer bei diesem Geschäft, weil sie so abhängig von der Institution aufwachsen, dass sie bei Eintritt in die reale Erwachsenenwelt auf alles vorbereitet sind, nur nicht darauf, in dieser Welt zu leben.

 

1 Das ist eine besondere Form des Nationalismus, bei der das eigene Volk (die eigene Nation) als Mittelpunkt u. zugleich als gegenüber anderen Völkern überlegen angesehen wird.

2 Die Fähigkeit, Wörter oder zusammenhängende Texte nur mit Mängeln lesen oder schreiben zu können.

3 Papalia, Diane E. und Windkos Olds, Sally: A Child’s World (= „Eine Kinderwelt“). McGraw-Hill. 1986. S. 408.

4 Histologische Untersuchung von Gewebe, das dem lebenden Organismus entnommen ist.

5 Bronfenbrenner, Urie: Two Worlds of Childhood (= „Zwei Welter der Kindheit“). Simon and Schuster. 1970. S. 138.

6 Marshall, James: The Devil in the Classroom (= „Der Teufel im Klassenraum“). Schocken Bücher. S. 34.

7 Holt, John: Teach Your Own (= „Lehre dich selbst“). Delacorte/Seymour Lawrence Verlag. 1981. S. 39.

8 Gatto, John Taylor: Dumbing Us Down (= „Wer uns zum Schweigen bringt”). New Society Publishers. 1992. S. 47-50.